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AutorenbildHeiko Tornow

Ich bin nicht mehr meiner Meinung

Hätte ich am vergangenen Sonnabend schon gewusst, was ich heute am Montag weiß, ich hätte die richtigen Zahlen im Lotto getippt. Aber wie heißt es so schön: Hinterher sind wir alle schlauer. Das gilt auch für die Leute von der Tagesschau. Die überraschten vor ein paar Tagen die Nation mit der Mitteilung, Deutschland habe die rechtzeitige Reaktion auf die Coronakrise verpennt: „Klar ist: 78 Tage sind vergangen von der ersten Meldung ( über die Gefahr einer Pandemie) bis zu entschlossenen Maßnahmen.“ Und damit auch jeder mitbekommt, dass diese Bemerkung durchaus als harte Kritik an der Bundesregierung zu verstehen sei, kommt in dem Beitrag Achim Kessler zu Wort, Obmann der Linken im Gesundheitsausschuss des Bundestages. : Es habe „eine Phase gegeben, in der die Situation heruntergespielt“ wurde.


Folgen wir mal, nur so zum Spaß, diesem Narrativ. Richtig gehandelt hätten demnach Merkel und die deutschen Ministerpräsidenten, wenn sie denn bereits am 31. Dezember entschlossene Maßnahmen gegen das neuartige Virus ergriffen hätten und nicht erst am 18. März. So aber wurden „78 lange Tage“ tatenlos verplempert. Sofortiges Handeln hätte tausende Leben gerettet, Milliardenschäden in der Wirtschaft wären vermieden worden. Hätten nicht bereits an Sylvester letzten Jahres Großveranstaltungen abgesagt, Schulen und Kitas abgesperrt, Geschäfte und Grenzen geschlossen werden sollen? Die ganze Nation hätte sich doch gewiss nach der eindringlichen Neujahrsansprache der Kanzlerin freudig in Quarantäne begeben und der weisen Berliner Führung ob ihrer vorausschauenden Fürsorge applaudiert.


Hätte, hätte, Fahradkette!


Ja gehts noch? Wie lebensnah ist denn eine solche Vorstellung? Um Weihnachten gab es vage Informationen über einen neuartigen Virus in Wuhan. Der Krankheitsverlauf wurde zunächst als grippeähnlich dargestellt. Ende Januar traten die ersten Fälle in Deutschland auf. Der erste deutsche Coronatote war ein Hamburger Feuerwehrmann, der am 8. März in Ägypten starb.


Am 28. Januar wurde der damals noch nicht als allwissender Coronapst gefeierte Virologe Christian Droste - ebenfalls in der Tagesschau - zu den Folgen der aufziehenden Bedrohung befragt. Droste warnt zwar vor den möglichen Gefahren einer Pandemie. Er sagt dann aber wörtlich: „Ganz klar sind wir jetzt noch nicht an diesem Punkt, und es muss auch nicht zwangläufig dazu kommen....Die gute Nachricht ist andererseits: Wenn es so ist, dass der durchschnittliche Patient relativ mild krank ist, dann werden wir auch geringere Sterblichkeitszahlen haben. Dann wäre die Erkrankung harmloser, als sie im Moment aussieht.“

War sie aber nicht. Eine vorausschauende Weisheit des Experten war Ende Januar noch nicht sichtbar, die wurde erst virulent, als alle Welt alarmiert und verängstigt den Abwehrkampf gegen Covid19 aufnahm. Auch bei uns im Landkreis Stade.

So ist das nun mal mit dem Blick in die Glaskugel. Erst hat man keine zur Hand und dann verrät sie einem nicht mal die Zukunft. Aber der Blick zurück ist wenigstens ein sicherer Weg zur Erkenntnis. Oder er könnte es doch jedenfalls sein, wenn die Erinnerung nicht so löchrig wäre und die alten Zeitungen leider schon im Müll. So klagen heute auf Demonstrationen allenthalben Halb- oder Nichtinformierte etwa darüber, dass die Gesichtsmasken zunächst als wenig sinnvoll, dann als vielleicht oder ziemlich nützlich und schließlich als unbedingt verpflichtend beschrieben wurden: „ Was soll man denn noch glauben? Wenn selbst die Kanzlerin..., oder der Herr Spahn.... oder der Prof. Soundso mal dies mal jenes sagen?“

Man soll nicht glauben. Man soll hören, lesen, denken. Dann bekäme man auch mit, dass ein Zuwachs an Erkenntnissen - zumal in einem sehr dynamischen Prozess - zu einer Meinungsänderung führen kann. Gelegentlich sogar muss. Was nutzt all die Forschung, wenn Forscher sich damit zufrieden gäben, alles immer schon gewusst zu haben. Nur der Wissenschaftler -und Politiker und Jedermann - taugt etwas, der erkennt- und sagt - er habe sich geirrt. Und er sei - nur so zum Beispiel - nunmehr davon überzeugt, dass der Lappen vor Mund und Nase durchaus ein - wenn auch nur beschränkt - taugliches Mittel gegen den Coronavirus ist. Es ist nicht mal auszuschließen, dass auch diese Weisheit mit Mängeln behaftet ist und irgendwann korrigiert werden muss. Das muss man aushalten. Wie die sich mehrfach geänderten Bewertungen der ominösen Ansteckungszal R-Null.


Gegen solche Meinungswechsel zu demonstrieren ist dumm. Wer immer der Gleiche bleibt, keine neue Nachricht an sich herankommen lässt, sich immer sicher auf der richtigen Seite wähnt - der ist wahrhaft arm dran. Bert Brecht hat es mal auf den Punkt gebracht: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert.‘ ‚Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte.“

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